Asymmetrische oder toxische Beziehungen im Arbeitsalltag
Wir sind Teil einer Gesellschaft.
Gedanke über führen und manipulieren
Der Begriff „toxische Beziehung“ hat Karriere gemacht. Er verspricht Klarheit: Manipulation, Kontrolle oder emotionale Erpressung und Abwertung. Doch Arbeitsbeziehungen folgen selten einfachen Mustern. Häufig sind es asymmetrische Konstellationen – leise, unspektakulär und lange toleriert –, aus denen Belastung entsteht.
Gute Beziehungen im Arbeitsumfeld sind selten spektakulär. Sie funktionieren leise. Unaufgeregt. Fast selbstverständlich. Man kann sich aufeinander verlassen, Zusagen gelten, unterschiedliche Meinungen werden ausgehalten, ohne dass gleich Feuer im Dach ist. Vertrauen ist da – nicht als naiv-romantische Idee, sondern als gewachsene Selbstverständlichkeit.
Was aber ist mit belastenden Beziehungen? Wie äussern sie sich? In den letzten Jahren hat sich dafür ein Begriff etabliert, der schnell zur Hand ist: wir sprechen von „toxische Beziehung“. Der Begriff wird metaphorisch für Verhaltensweisen oder Beziehungen verwendet, die psychisch oder emotional schädlich sind. Gemeint sind Verhaltensweisen wie Manipulation, Abwertung oder Kontrolle. Diese toxischen Beziehungen können bis zur Erschöpfung oder anderen körperlichen Beschwerden führen. Ja richtig, auch zu körperlichen Beschwerden. Dazu später mehr.
Bleiben wird zunächst noch beim Begriff der «toxischen Beziehungen». „Toxisch“ beschreibt vor allem die Wirkung einer Beziehung – nicht zwingend ihre Struktur. Eine Beziehung wird dann als toxisch erlebt, wenn sie dauerhaft schadet: dem Selbstwert, der psychischen Gesundheit, der eigenen Handlungsfähigkeit. Gleichzeitig greift der Begriff zu kurz, wenn er zur pauschalen Erklärung für alles wird, was schwierig, belastend oder unerquicklich ist.
Im Arbeitskontext haben wir es oft mit etwas anderem zu tun: mit asymmetrischen Beziehungen. Beziehungen, in denen das Gleichgewicht verloren gegangen ist. Nicht zwingend aus Bosheit oder destruktiver Absicht, sondern aus struktureller Überlegenheit, aus Abhängigkeiten, aus informeller Macht oder schlicht aus Gewohnheit. Asymmetrie beschreibt nicht das Gift, sondern die Schieflage einer Beziehung.
Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn nicht jede asymmetrische Beziehung ist per se toxisch. Führung ist per Definition asymmetrisch. Verantwortung ist ungleich verteilt. Entscheidungsbefugnisse ebenso. Problematisch wird es dort, wo diese Asymmetrie nicht reflektiert, sondern ausgenutzt wird – wo sie stillschweigend Druck, Kontrolle, Angst, falsche Hoffnungen und Willkür legitimiert.
Diese Dynamik zeigt sich selten offen. Sie beginnt unscheinbar, fast harmlos und wird dann immer grösser. Etwa dort, wo Druck erzeugt wird, indem knappe Termine ohne sachliche Notwendigkeit gesetzt werden. Jede Aufgabe dringend ist oder gar noch dringender. Misstrauen als Fürsorge getarnt wird. Ironie als Humor getarnt ins Spiel kommt. Egos den Raum ausfüllen, während andere lernen, sich kleiner zu machen.
Besonders perfide wird es dort, wo Hoffnungen gestreut werden wie ein Vorschuss auf eine Zukunft, die nie ganz erreicht werden kann. „Ich hätte dir wirklich gerne eine Lohnerhöhung gegeben, aber …“ – der Konjunktiv als Führungsinstrument. Oder dort, wo Charme eingesetzt wird, um Bindung zu erzeugen: „Wenn ich dich nicht hätte …“ Nähe wird zur Ressource, nicht zur Beziehung. Und am Ende regiert Willkür. Regeln gelten – bis sie nicht mehr gelten. Orientierung wird zum Glücksspiel.
Spätestens an diesem Punkt kippt Asymmetrie in etwas anderes. Sie wird nicht mehr nur zur Schieflage, sondern zur Belastung. Zur zerstörenden Erosion von Vertrauen, Selbstwirksamkeit und Klarheit. Das Gift entfaltet seine volle Wirkung. Unaufhaltsam. Oft irreversibel. In einem Umfeld, in dem manipuliert und nicht geführt wird, ist Zusammenarbeit nicht mehr möglich.
Und jetzt kommt eine wichtige Beobachtung meinerseits: Wer in solchen Beziehungen arbeitet, beginnt irgendwann an sich selbst zu zweifeln. Nicht am System. Nicht am Gegenüber. Sondern an der eigenen Wahrnehmung. „Ich bin wohl zu sensibel.“ „So ist halt der Druck.“ „Andere kommen doch auch damit klar.“ „Ich muss mich mehr anstrengen.“
Was dabei häufig unterschätzt wird, ist die körperliche Dimension solcher Beziehungsmuster. Die Psychoneuroimmunologie – kurz PNI – untersucht seit Jahrzehnten, wie psychische Belastungen, neuronale Prozesse und das Immunsystem zusammenwirken. Ihre zentrale Erkenntnis ist ebenso schlicht wie unbequem: Dauerhafter sozialer Stress macht krank.
Asymmetrische Beziehungen, geprägt von Unsicherheit, subtiler Bedrohung oder fehlender Verlässlichkeit, aktivieren im Körper fortlaufend Stressreaktionen. Cortisol- und Adrenalinspiegel bleiben erhöht, regenerative Prozesse werden gedrosselt, das Immunsystem reagiert anfälliger. Studien zeigen Zusammenhänge mit erhöhter Infektanfälligkeit, Schlafstörungen, chronischer Erschöpfung und langfristig auch mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Entscheidend ist dabei weniger die einzelne Belastung als ihre Dauer und Unvorhersehbarkeit – ein typisches Merkmal asymmetrischer Machtbeziehungen.
Für Führungskräfte ist das keine psychologische Randnotiz, sondern eine Frage von Verantwortung. Ein Arbeitsumfeld, das permanent Alarmzustände erzeugt, verbraucht Substanz – individuell wie organisatorisch. Vertrauen, Klarheit und Verlässlichkeit sind damit nicht nur kulturelle Werte, sondern messbare Gesundheitsfaktoren. Wer Beziehungen gestaltet, übernimmt Verantwortung. Für sich und für andere.
Im Coaching setzen wir genau hier an. Nicht mit Schuldzuweisungen, sondern mit Klarheit. Ein zentrales Instrument ist dabei das Soziogramm (Grundidee von Jakob Levy Moreno) – eine Art Landkarte der beruflichen Beziehungen. Es macht sichtbar, was oft längst gespürt wird, aber diffus bleibt: Wo läuft es gut? Wo kostet eine Beziehung unverhältnismässig viel Energie? Welche Muster wiederholen sich, unabhängig von Personen und Rollen? Mit welchen Menschen kann ich in meinem Arbeitsalltag nicht auf Augenhöhe kommunizieren? Wo ist echter Austausch möglich – und wo nicht? Wo wird Verantwortung geteilt, wo subtil verschoben? Wo darf ich widersprechen, ohne danach isoliert zu werden? Auf dieser Basis werden gemeinsam Massnahmen definiert und umgesetzt.
Fazit:
Die Klarheit über unsere beruflichen Beziehungsmuster ist keine Garantie für einfache Lösungen. Aber sie ist die Voraussetzung dafür, überhaupt handlungsfähig zu werden. Nicht jede Beziehung muss gerettet werden. Manche müssen neu verhandelt, andere bewusst begrenzt werden. Und manche darf man auch hinter sich lassen.
Mathias Kühni
Executive Coaching | equilibra