Muss es immer Konsens sein?
Warum Konsens Teams lähmt – und was gute Führung stattdessen braucht
Warum echte Zusammenarbeit mehr Spielraum braucht
Konsens klingt nach Demokratie, Fairness und Teamgeist. In der Praxis aber ist er oft ein verkapptes Stillhalteabkommen:
Alle nicken, keine:r ist glücklich – es werde immer wieder Einzelinteressen verhandelt. Das Projekt harzt. Der Spielraum für gute Lösungen wird schon früh aus der Hand gegeben.
Es ist Zeit, über eine Alternative zu sprechen, die auf den ersten Blick weniger fair scheint, dafür ehrlicher ist: Konsent.
Die Szene ist vertraut: Ein Meeting läuft, die Stimmung ist höflich, zwei oder drei Personen bestimmen die Diskussion. Am Ende fragt die Sitzungsleitung: „Sind alle einverstanden?“ Ein paar nicken, einige schauen auf den Tisch, niemand sagt etwas. Die Sitzung gilt als erfolgreich – scheinbarer Konsens. Aber gerade als Führungskraft wissen Sie nur zu gut: Ein paar stille Zweifler:innen reichen, und das ganze System beginnt, sich im Kreis zu drehen.
Konsens gilt als Ideal, doch er ist oft nur der kleinste gemeinsame Nenner: die Schnittmenge der Mutlosigkeit. Man verabschiedet sich schon früh von allem, was Reibung erzeugen könnte. Das Ergebnis ist glatt – und damit erstaunlich anfällig, sobald es bergauf geht.
Zwei Parteien treffen sich, um eine gute Lösung zu finden. Beide wissen genau, was sie wollen “JA” – und was nicht “NEIN”.
Dazwischen liegt der „Okay-Bereich“: eine Zone, in der keine gravierenden Einwände bestehen, auch wenn es nicht die Wunschlösung ist.
Eine Alternative wirkt auf den ersten Blick weniger harmonisch, ist aber ehrlicher und wesentlich tragfähiger: Konsent.
Das Prinzip stammt aus der systemischen Organisationsentwicklung. Während Konsens verlangt, dass alle zustimmen, fragt Konsent nach etwas anderem: ob jemand einen schwerwiegenden Einwand hat, der das gemeinsame Ziel gefährden würde.
Das scheint ein feiner Unterschied – in der Praxis verändert er alles. Stellen Sie sich zwei Parteien vor, die eine Lösung suchen. Jede Partei weiss, was sie klar will – den eigenen „Ja“-Bereich – und was sie auf keinen Fall akzeptieren würde. Dazwischen liegt eine Zone, die nicht ideal, aber akzeptabel ist - sagen wir dem “OK-Bereich”: weder Wunschlösung noch rote Linie, sondern ein praktikabler Raum.
Konsens zwingt beide Parteien, sich genau auf diese Schnittmenge der “Ja”-Bereiche zu begrenzen. Je kleiner die individuellen Präferenzen, desto enger der Korridor, in dem eine Einigung überhaupt möglich ist. Je weiter die Ausgangspunkte auseinanderliegen, desto unwahrscheinlicher wird der Konsens.
Konsent hingegen öffnet den Raum. Nicht grenzenlos, aber so weit, dass neue Ideen überhaupt entstehen dürfen. Einwände sind keine Störung, sondern Hinweise auf potenzielle Risiken. Sie zeigen, wo etwas wackelt, bevor es kippt. Ein Einwand ist damit kein Nein, sondern ein Beitrag – ein Angebot, besser zu denken.
Voraussetzung ist allerdings eine Zusammenarbeitskultur, in der nicht persönliche Geschmäcker, sondern sachliche Risiken zählen. Konsent funktioniert nur, wenn Menschen bereit sind, zuzuhören, sich gegenseitig ernst zu nehmen, zu verstehen und Verantwortung zu teilen. Er braucht mehr Disziplin als Zustimmung, aber auch mehr Vertrauen als Kontrolle.
Viele Projekte scheitern nicht an Widerstand, sondern an verschwiegenen Vorbehalten. An Entscheidungen, die niemand infrage stellte, weil niemand als Störenfried gelten wollte. Doch die verdrängte Meinung meldet sich zuverlässig – meist dann, wenn es brennt. Konsent wirkt in diesem Sinne wie eine Versicherung: Er kostet am Anfang mehr Denkarbeit, verhindert aber spätere Eskalationen.
Vielleicht lautet die entscheidende Frage von Ihnen im nächsten Meeting deshalb nicht:
„Sind alle dafür?“
Sondern:
„Spricht etwas Schwerwiegendes dagegen?“
Die Erfahrung zeigt: Zusammenarbeit wird dadurch nicht nur ehrlicher – sondern auch erstaunlich viel leichter.
Mathias Kühni
Executive Coaching | equilibra